Auf den Flügeln der Liebe

Der Zug fuhr durch die Nacht. Manchmal huschten ein paar Lichter vorbei, aber die meiste Zeit sah Karl nur sein Spiegelbild im Fenster. Er sollte schlafen, dringend, aber es ging nicht. Morgen würde er sie endlich wiedersehen.

Er hatte es sich wieder und wieder vorgestellt. Sie würde auf ihn zulaufen, in seine Arme springen, wie früher, “Engelein flieg”. Aber sie versteckte sich hinter der Mutter, wagte es kaum, ihn anzusehen. Die Freundin hatte seine Ex-Frau auch mitgebracht, musste das sein. Als würde ein glühendes Messer in seinem Herzen rühren.

“Du verstehst mich einfach nicht. Sabrina weiß was ich fühle, du bist einfach nur ein grober Klotz. Du gehst zur Arbeit, und dann bist du müde. Was in mir vorgeht, das ist dir egal. Ich werde gehen, mit Sabrina habe ich endlich einen Menschen gefunden, dem ich etwas wert bin.”

Aber du bist mir doch so viel wert, hatte er gedacht. Geh du mal den ganzen Tag auf die Baustelle, dann wirst du schon sehen, wie müde du abends bist. Und dass du dann einfach nicht mehr kannst, keine Kraft mehr hast dir anzuhören, wie benachteiligt du bist, weil du dich nicht “entfalten” kannst.

Warum war es dir nicht genug, unserem kleinen Engel die Flügel zu entfalten?

Karl schluckte seine Enttäuschung herunter. Kaja hatte ihn zwei Jahre nicht gesehen. Für Kinder ist das eine Ewigkeit, wie hatte er nur glauben können, dass sie ihren Papa nicht vergessen hatte. Aber es würde wieder werden. Sie würde nur ein wenig Zeit brauchen.

Das erste Jahr nach der Scheidung war es gut gewesen. Er hatte regelmäßigen Umgang erstritten, und jedes zweite Wochenende war Kaja bei ihm gewesen. In den Zoo, ins Museum, raus in die Natur. Er war gar nicht so unglücklich gewesen mit der Situation, in stillen Stunden gab er es sich zu. Das war doch schon sehr anstrengend mit so einem kleinen Wuzel, zwei Tage alle zwei Wochen, mehr hätte er nicht wirklich gewollt. Und, anstatt abends Psycho-Geschwurbel zu ertragen, mit den Kumpels Karten zu spielen, das kam ihm durchaus entgegen.

Aber dann war Kaja fortgezogen, mit ihrer Mutter und Sabrina. Weit fort. “Aufenthaltsbestimmungrecht”, er hatte gar nicht gewusst, was das war. Dass es seiner Frau zugesprochen wurde, alleinig, hatte er nicht ernst genommen. Ihm war es nur um das Umgangsrecht gegangen. Tja, das hatte er nach wie vor, aber es blieb ihm doch kaum Geld wegen des hohen Unterhalts, den er zu zahlen hatte. Und seine Ex-Frau hatte sofort nach der Scheidung wegen ihrer psychischen Probleme durchgesetzt, dass sie nicht arbeiten gehen musste. Und so musste Karl nun Sabrina auch noch durchfüttern. Die arbeitete nämlich auch nicht, sie musste sich doch um Kajas Mutter “kümmern”. Karl blieb kaum genug, um jeden Tag etwas zu Essen zu haben, woher hätte er das Geld für die weite Zugfahrt und die Übernachtung im Hotel nehmen sollen?

“Sabrina kann keine Männer um sich ertragen. Du musst verstehen, bei uns kannst du nicht wohnen, und das ist dein Problem.”

Aber jetzt, mit der Gehaltserhöhung würde alles anders werden. Ganz bestimmt. Natürlich nicht alle zwei Wochen, aber vielleicht alle zwei Monate – wenn er sein Geld zusammen hielte, dann würde das gehen. Für Kaja war ihm nichts zuviel.

Kaja war kein einziges Mal in seine Arme gesprungen. Und als Karl sie küssen wollte zum Abschied, drehte sie den Kopf weg. “Männer sind doof”, hatte sie gesagt, schon am ersten Abend. Natürlich wollte sie keinen Kuss von ihrem Vater.

Der Zug fuhr durch die Nacht.

Karl stieg den Berg hinauf. Der Abend dämmerte bereits, als er oben ankam. Er kannte die Stelle gut, er war schon viele Male hiergewesen. “Wer da runterfällt, der hat es hinter sich”, hatte er oft gegrübelt an jenem Platz. Dort würde es gehen. Er rastete am Rand der Klippe. Eine Flasche Bier zum Abschied wollte er sich noch gönnen.

Ein Vogel flog herbei. Er hatte eine schöne rote Zeichnung am Hals. Wird wohl ein Rotkehlchen sein, dachte Karl. Es war ungewöhnlich zutraulich, ganz nah kam es zu ihm, und es sah ihn aus seinen kleinen schwarzen Knopfaugen an.

Dann begann der Vogel zu sprechen. Seine Stimme war direkt in Karls Kopf. Jetzt ist es passiert, dachte Karl, ich werde verrückt.

“Aber nein”, sagte das Rotkehlchen. “Du bist nicht verrückt, nur sehr, sehr traurig. Darum bin ich gekommen. Kann ich dir helfen?”

“Meine Tochter liebt mich nicht mehr”, flüsterte Karl. “Sie hat mich vergessen, hasst mich sogar. Sie war der größte Schatz für mich… ich will nicht mehr.”

“Gib ihr Zeit”, meinte der Vogel. “Eines Tages wird sie erwachsen sein, vielleicht erinnert sie sich dann deiner Liebe.”

“Ach was”, schnaubte Karl. “Eine ganze Kindheit in dieser Frauenwirtschaft, da bin ich längst tot, bis sie merkt, wie sehr sie betrogen wurde. Warum ist das nur so? Warum heißt es plötzlich, die Ehe zwischen Mann und Frau wäre schlecht? Sollte ein Kind nicht mit Vater und Mutter aufwachsen? Was ist bloß passiert.”

Der Vogel wiegte nachdenklich das kleine Köpflein. “Man will euch ausrotten. Sehr, sehr reiche Leute haben beschlossen, dass es ihnen zu anstrengend ist, sich mit euch abzugeben. Sie wollen euch durch Roboter ersetzen. Und deshalb soll alles, bei dem keine Kinder herauskommen können, plötzlich gut sein, und das Natürliche wird verteufelt. Es ist eigentlich ganz einfach zu verstehen.”

Karl wusste jetzt Bescheid. Er war tatsächlich irre geworden.

Er sprang.

Im Fallen breitete er seine Arme wie Flügel aus, und so würde er dem All gegenübertreten. Im Beweis seiner Liebe zu seiner Tochter.

Ein Rabe flog herbei und setzte sich neben das Rotkehlchen. “Na, das hat aber nicht gut geklappt, was? Warum hast du ihm nicht gesagt, dass du ein Engel bist?”

“Er hätte es mir doch nicht geglaubt”, seufzte das Rotkehlchen. “Er war so verloren in seinem Kummer, da war nur noch Dunkel in seiner Seele. Und wie sollte einer, der den Herrgott nicht mehr kennt, irgendwas von Engeln wissen?” Der Rabe wurde streng. “Und warum hast du ihm nicht geraten, er möge sich eine neue Frau suchen, eine bessere, und mit der wieder Kinder haben? Das Geschrei in der Nacht hätte ihm seine Kaja nicht zurückgebracht, aber viel Zeit sich zu quälen, wäre ihm doch nicht mehr geblieben? Aber von einem Anfänger wie dir kann man das vielleicht nicht erwarten. Du musst ein wenig robuster werden in diesen Dingen.”

Der kleine Engel sah seinen Lehrer an. “Ich konnte es nicht. Ich konnte seine Liebe nicht ändern, um keinen Preis der Welt. Sie war ein Juwel in seinem Herzen, verstehst du? Wie hätte ich daran rühren dürfen?”

Sie stiegen auf. Ein kleines goldenes Licht, und ein großes goldenes Licht, und so hoch hinauf, bis sie Sterne am Himmel geworden waren.